Die Trepläv-Bühne

DIE TREPLÄV – BÜHNE

Man schaut direkt auf den See und auf den Horizont“1

Gefundene Orte haben eine ihnen innewohnende Sensibilität, die es zu entdecken gilt. Diese Sensibilität zu nutzen macht ortsspezifisches Theater überhaupt erst interessant. Die Trepläv-Bühne in Anton Tschechows 1895 geschriebenem Theaterstück „Die Möwe“ ist dazu ein Schlüssel.

Das Stück beginnt mit den Vorbereitungen zu einer privaten Theateraufführung im Familien- und Bekanntenkreis . Trepläv, der Sohn einer bekannten Schauspielerin zeigt ein selbst verfasstes Theaterstück. Für diese Inszenierung eines Theaters im Theater gibt es jedoch kein herkömmliches Bühnenbild. Stattdessen wird der See hinter der Terrasse und der gerade aufgegangene Mond als temporärer Hintergrund genutzt. Trepläv sagt: (…) Das nenne ich ein Theater. Vorhang, (…) und dahinter der leere Raum. Keinerlei Dekoration. Man schaut direkt auf den See und auf den Horizont. Genau um halb neun, wenn der Mond aufgeht, ziehen wir den Vorhang auf.“ 2 Es geht also nicht darum, dass keine Mittel vorhanden wären, um einen Bühnenhintergrund herzustellen, sondern der „leere Raum“ hinter der Bühne ist eine bewußte Regieentscheidung. Eine besondere Bedeutung gewinnt die Trepläv – Bühne dadurch, dass sie nur an einem bestimmten Ort existiert, nämlich auf der Terrasse des teplävschen Elternhauses. Über seine Mutter , die Herrin des Hauses und eben jene berühmte Schauspielerin sagt Trepläv: „Sie liebt das Theater, sie glaubt, sie diene der Menschheit, der heiligen Kunst, aber für mich ist das moderne Theater Routine, Konvention (…) Wir brauchen neue Formen (…)“3

Die ortspezifische Bühne als formal erneuernde Theaterstrategie erfüllt genau diese Forderung. Sie konfrontiert die zuschauenden Verwandten und Bekannten, vor allem aber Mutter und Sohn mit der eigenen altbekannten Perspektive. Die Sicht der Mutter auf die Welt ist die Sicht der konventionellen Kunst, gegen die Trepläv revoltiert. Trepläv deutet den Blick von der Terrasse des Elternhauses in seinem Theaterstück um: Wie in einem Traum wird das bekannte zum unbekannten und die Realität fällt in sich zusammen. Nina, die vortragende Schauspielerin spricht von einer fernen Zukunft, in der es keine Menschen mehr gibt und in der nur noch eine „Weltenseele“ umher irrt. In Treplävs Vision ist die Zukunft menschenleer und abstrakt. In Stanislav Lems Science fiction – Roman „Solaris“4 trifft ein Forscher im Orbit eines fremden Planeten seine verstorbene Geliebte und zwar als körperlich anwesendes Geschöpf. Dann stellt sich im weiteren Verlauf des Romans heraus, dass der rote Ozean des Planeten das Unterbewusstsein des Forschers spiegelt und daraus eine lebendige Puppe, einen Körper formt. Dies ist eine Version der treplävschen Bühne, bei der – wenn man den Ozean auf einem fiktiven fremden Planeten so nennen kann – die Natur zum handelnden und bestimmenden Wesen wird. In beiden Werken wird der umgebende Raum dazu benutzt, um unterbewusste Inhalte zu verhandeln, der „leere Raum“ hinter der Trepläv Bühne und hinter den Bullaugen der Raumstation wird zu einem surrealen Spiegel.

Vor allem Theaterakteure aus dem Umkreis der Gießener – Schule haben in den vergangenen 30 Jahren eine neue Sensibilität für den Raum entwickelt, die der von Trepläv in Tschechows „Die Möwe“ ähnelt. Viele Produktionen des Sprechtheaters wiederum benutzen zwar ortsspezifische Bühnen, aber diese Orte haben hier eine ähnliche Funktion wie in den Theaterhäusern: Sie bleiben Kulissen und werden als Orte nicht hinterfragt oder kontextualisiert.  Wenn ich mich als TheatermacherIn für eine ortsspezifische Bühne entscheide, entscheide ich mich aber zuerst einmal gegen jene Illusions-Maschine, die klassische Theaterhäuser bieten. Ist es dann nicht interessanter, nach dem Wesen der Umgebung zu fragen, in dem wir als KünstlerInnen arbeiten, statt der Umgebung unsere Vorstellungen aufzuzwingen?! Truth is stranger than fiction – Inhalte und Formen für spannendes Theater sind in den Geschichten der Räume verborgen und es steht uns frei, diese Geschichten zu entdecken und damit dem Wesen unserer Umgebung auf die Spur zu kommen. Der Umgang Treplävs mit seiner Bühne in „Die Möwe“ läuft darauf hinaus, genauer zu untersuchen, was meine eigene Beziehung zu genau dem Raum ist, in dem ich mich jetzt befinde. Was kommt aus dem Raum, in dem wir Theater machen oder in dem wir Theater erleben? Was ist schon da? Was macht der Ort mit mir, mit meinem Körper und mit meinen Gedanken? Der autobiografisch-dokumentarische Kontext rückt in den Vordergrund.

1-3. Trepläv in Die Möwe
von Anton Tschechov, Diogenes 1973
4. Solaris von Stanislav Lem, Claasen Verlag 1972

Linolschnitt: Oliver Bedorf